ÉVéNEMENTS

Spazieren in Berlin : Auf den Spuren von Franz Hessel

Ende März machte eine Gruppe von etwa 40 französischen Germanistik-Studierenden sowie aktuellen und ehemaligen DAAD-StipendiatInnen für vier Tage (18. bis 22. März 2015) eine Exkursion in die deutsche Hauptstadt. Das Ziel: das moderne Berlin auf den Spuren des deutschen Autors, Dichters, Übersetzers, Lektors und Flâneurs Franz Hessel (1880-1941) erkunden. Der DAAD unterstützte die Studienfahrt finanziell im Rahmen seiner Alumniarbeit.

Als Blaupause für die Berlinfahrt diente Franz Hessels 1929 veröffentlichter Roman « Spazieren in Berlin » (frz. « Promenades dans Berlin »), in dem der in Stettin geborene Autor seine Spaziergänge durch das Nachkriegs-Berlin der Zwanziger Jahre beschreibt. Der – autobiografisch geprägte – Ich-Erzähler wandert durch ein Berlin, das sich rasant wandelt und von Widersprüchen geprägt ist: Industrialisierung und schnelles Wachstum der Stadt sowie Blüte der Kulturszene auf der einen Seite, Verarmung weiter Bevölkerungsschichten, politische Unsicherheit sowie Beschleunigung des Stadtlebens auf der anderen. Hessel stellt sich als flanierender Beobachter und Entdecker bewusst dieser Beschleunigung entgegen. Stattdessen streift er – mal zu Fuß, mal mit der S-Bahn, mal zu Schiff – durch die Metropole, nimmt wahr, was die anderen nicht sehen, schweift vom Weg ab und hat dabei nie ein Ziel vor Augen.

Die Studierenden des Master-Studiengangs Études germaniques et interculturelles an der Université Paris III – Sorbonne Nouvelle, setzten sich in dem séminaire professionalisant von Andréa Lauterwein mit dem Autoren Franz Hessel und dem Roman „Spazieren in Berlin“ auseinander. Frei nach der darin angewendeten Methode, die Stadt flanierend zu erkunden, organisierten sie im Rahmen dieses Seminars selbst eine Exkursion in die deutsche Bundeshauptstadt. Doch Ziel der viertägigen Exkursion war es keineswegs, die Wege von Hessel nachzulaufen. Stattdessen konnten die Teilnehmer an jedem Tag ihre individuelle Erkundungstour durch Berlin zusammenstellen, indem sie aus täglich einer Reihe von vorgeschlagenen Ateliers zu unterschiedlichen Themen ihren eigenen Favoriten wählten. So machten sie in Gruppen ihren ganz individuell zusammengestellten Stadtspaziergang, auf dem sie die verschiedenen Viertel und deren abseits vom üblichen Touristen-Pfad liegenden Orte kennenlernten.

Die Ateliers wurden von waschechten (ursprünglichen oder zugezogenen) BerlinerInnen geleitet, die beispielsweise ihren Kiez, ihre Zeitzeugen-Erinnerungen an die Vergangenheit der Stadt oder auch ihren Arbeitsplatz vorstellten. Kurzum: Sie zeigten ein durch und durch subjektives Berlin – von Schöneberg über den Potsdamer Platz bis nach Kreuzberg. So konnten die BesucherInnen zum Beispiel erfahren, wo die Berliner Intelligenz der Zwanziger Jahre hauste, arbeitete und lebte, wie in Schöneberg mit Gedenktafeln an die allgegenwärtige Diskriminierung von Jüdinnen und Juden seit Beginn der NS-Herrschaft erinnert oder wie der Radiosender Deutschlandfunk Kultur von innen aussieht.

Ein Höhepunkt der Reise war der Vortrag des Hessel-Kenners, Übersetzers und freien Autors Prof. Manfred Flügge, der Theaterstücke, Romane und Biographien deutscher Intellektueller des 20. Jahrhunderts verfasst hat, darunter auch wiederholt zu Hessel. Flügge stellte heraus, dass der Autor von „Spazieren in Berlin“ seine Beobachtungen im Hier und Jetzt zum Anlass nimmt, innezuhalten, einen zweiten Blick durch die Zeit hindurch zu werfen. Die Gegenwart wird für Hessel damit zum Auslöser für Beobachtungen, die in die Vergangenheit, meist die Antike, führen.

Auch unsere Gruppe wurde auf der Exkursion zu Beobachtern der Berliner Gegenwart und Vergangenheit, und so war die Studienreise eine bereichernde Erfahrung für alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Mir hat es sehr gut gefallen, dass uns ortskundige Menschen, die teils seit ihrer Kindheit in Berlin lebten, ihr eigenes Wissen vermittelten, uns durch ihre Viertel führten und dass es dabei auch sehr persönlich zuging.

Text: Florian Birnmeyer (Stipendiat des DAAD 2014-2015)

Franz Hessel hatte als jüdischer Autor nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten Berufsverbot, arbeitete aber dennoch bis 1938 als Lektor im Rowohlt-Verlag. Kurz vor dem Novemberpogrom ging er gegen seinen Willen und auf Anraten seiner Frau und Freunden ins Pariser Exil. Er wurde wiederholt in Frankreich interniert und befand sich unter anderem wie zahlreiche andere Intellektuelle in dem südfranzösischen Exilzentrum Sanary-sur-Mer. Er starb am 6. Januar 1941 in dem Internierungslager Les Milles bei Aix-en-Provence.

Mehr Texte zu den einzelnen Spaziergängen finden sich auf der Seite www.asnieres-a-censier.fr der Studierenden der Université Paris 3.