ÉVéNEMENTS

Compte rendu : Rencontre des alumni à Paris

23 - 25 novembre 2023

Das DAAD Alumni France-Treffen 2023 sollte, wie die entsprechende Rundmail bereits im Sommer verlauten ließ, im Zeichen des 10-jährigen Bestehens unseres Vereins stehen. So war es denn nicht verwunderlich, sondern nur folgerichtig, dass das für Ende November geplante Treffen nicht in der französischen Provinz – sie wäre nach Hamburg im Jahre 2022 an der Reihe gewesen -, sondern im Geburtsort des Vereins, nämlich Paris, stattfand. Nichtsdestotrotz handelte es sich wie immer auch um eine Studienfahrt, wie wir Teilnehmer dem Programm entnehmen konnten, aber eben um ein Treffen, das das 10-jährige Jubiläum in Form einer soirée anniversaire, gleich am ersten Abend, würdigen und somit dem besonderen Anlass gerecht werden sollte. Das Programm an sich ließ eine klare Gliederung erkennen: Tag 1 war der Politik und den deutsch-französischen Beziehungen gewidmet, Tag 2 der Forschung und Naturwissenschaft sowie der Universitätspolitik, Tag 3 der modernen und zeitgenössischen Kunst. Somit war auch gewährleistet, dass jeder Teilnehmer über den Tellerrand seiner eigenen Disziplin blicken konnte bzw. musste und „seine Horizonte“ in der freundschaftlichen und entspannten Atmosphäre der Gruppe erweitern konnte.

Bevor es in medias res geht, sei bereits an dieser Stelle Janine Wenk und dem ganzen Team für das überaus interessante Programm und den gelungenen Ablauf der drei Tage gedankt: die Teilnehmer wurden überall erwartet, mussten nirgends warten und ihre Erwartungen wurden mehr als erfüllt – dank des Organisationstalents und der Kreativität aller Verantwortlichen.

 

Der 23. November 2023:

Palais Bourbon, Assemblée Nationale, die Deutsch-Französische Parlamentarische Versammlung, Politik und eine Geburtstagsfeier

Offiziell begann das Treffen um 13 Uhr 30 vor dem Besuchereingang der Assemblée Nationale. Hier bot sich auf Anregung von Nadine Magaud eine erste Gelegenheit, sich vorzustellen und sich näher kennenzulernen. Es zeigte sich, dass die meisten der Anwesenden aus Paris bzw. der französischen Provinz kamen, einige wenige aus Deutschland, ein Alumnus war gar aus dem andalusischen Sevilla eingeflogen. Wie zu erwarten, handelte es sich um Vertreter verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen und um Alumni mit ganz unterschiedlichen Biografien.

Zu Beginn der Besichtigung erfolgte eine eher ernüchternde und den aktuellen Umständen geschuldete Personen-, Taschen- und Gepäckkontrolle. Im Gewimmel dieser ersten Station des Besuches wurde uns bewusst, dass wir nicht die einzige Besuchergruppe an jenem Nachmittag waren. Nach einer kurzen Zeit des Wartens geleitete uns Frank Baron in seiner Eigenschaft als Conseiller au Secrétariat général de la Questure durch den ziemlich verschachtelten Gebäudekomplex, dessen Grundsteinlegung auf das Jahr 1722 zurückgeht und der seitdem unzählige Veränderungen, Erweiterungen und Umnutzungen erfahren hatte. Wir erreichten über den Salle des Quatre Colonnes, eine Art Kommunikationsdrehscheibe, den als périmètre sacré bezeichneten Sektor, zu dem der Zutritt strikten Regeln unterworfen ist, und drangen somit in die Herzkammer, oder präziser: in eine der Herzkammern der französischen Republik vor. Die folgenden prächtigen Räumlichkeiten erweckten vielfältige Assoziationen, manch einer mochte sich in ein Museum versetzt fühlen, ein anderer in ein Schloss mit zugehöriger Gartenanlage; das Halbrund, l‘hémicycle, ließ schließlich an eine Oper oder ein Theater irgendwo in Frankreich denken. Nun, wir befanden uns ja in einem „Palast“, dem Palais Bourbon, und nicht in einem vergleichsweise nüchternen deutschen Parlamentsgebäude.

Frank Baron erläuterte uns die verschiedenen Gemälde, Skulpturen und andere Kunstwerke beim Durchqueren der „Salon“ genannten Säle: Salon Pujol, Salon Casimir Périer, Salle des conférences, jeweils unter dem Gesichtspunkt der Geschichte der Gesetzgebung. Erwähnt seien hier exemplarisch folgende Darstellungen derartiger entscheidender Momente: Die Kapitularien Karls des Großen (Les capitulaires de Charlemagne), das salische Gesetz (La loi salique), ein Relief anlässlich des 100. Geburtstages der französischen Revolution, der Schwur des Bürgerkönigs Louis-Philippe auf die Charta von 1830. Im Konferenzsaal kommt einem Bild von Jules Arsène Garnier besondere Aufmerksamkeit zu: Le Liberateur du territoire illustriert die Ausrufung von Adolpe Thiers als „Befreier“ durch Abgeordnete der Nationalversammlung in Versailles im Juli 1877. Nicht zu vergessen ist das Gemälde Les Bourgeois de Calais, ein Motiv aus der Zeit des Hundertjährigen Krieges, das von Auguste Rodin auf Bitten der Stadt Calais in Form seiner berühmten Plastik aufgegriffen wurde. Schließlich erreichten wir das Herzstück der Assemblée Nationale, den Sitzungssaal der aktuell 577 Abgeordneten, und zwar auf dem obersten Rang, so dass wir von oben seine Gestaltung und die Anordnung der verschiedenen Sitzplätze überblicken konnten.

Wir erfuhren, dass die unteren Ränge wegen der größeren Nähe zur Regierung in der Wertschätzung der Parlamentarier höher stehen als die oberen. Frank Baron erläuterte uns ferner die Aufteilung der Sitze auf die verschiedenen Parteien, verglich das französische Wahlrecht mit dem deutschen, machte auf Besonderheiten des Wahlrechts aufmerksam (die zu einer surreprésentation de la majorité führen können), sprach über den Rückgriff auf den Paragrafen 49,3 , erwähnte eine Regel, nach der 10 Zuschauer ohne Einladung an den Sitzungen der Abgeordneten teilnehmen dürfen, sowie die Modalitäten und die Bedeutung der Berichterstattung früher und heute. Es fehlte nicht der Hinweis darauf, dass die aktuelle Regierung über keine Mehrheit verfügt, was das Regieren erschwert.

Bevor es zum nächsten Programmpunkt ging, durften wir und zahlreiche andere Schaulustige dem Eintreffen der Präsidentin der Nationalversammlung beiwohnen, da just um 15 Uhr eine Sitzung anberaumt war. Rufe und Trommelwirbel kündigten ihr Kommen an, eine quasi militärische Garde, prächtig herausgeputzt, die Hüte mit Federbusch, bildete ein Spalier, das sich hinter Yaël Braun-Pivet schloss – ein beeindruckendes, etwas pompöses Zeremoniell, eher noch in einer echten Monarchie zu erwarten.

Anschließend trafen wir uns mit dem Abgeordneten Frédéric Petit, mit Julia Erb-Dettori, einer Mitarbeiterin der elsässischen Abgeordneten Brigitte Klinkert, mit Julien Deroin von der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung und weiterhin mit Frank Baron zum Austausch. Gesprächsthemen waren die Zusammensetzung, Funktionsweise, Rolle und Kompetenzen der DFPV (bzw. APFA-Assemblée Parlementaire Franco-Allemande), die Bezüge zum Elysée-Vertrag von 1963 und zum Vertrag von Aachen im Jahre 2019, der Zentralismus in Frankreich im Gegensatz zur Länderhoheit in Deutschland, die Modalitäten der demokratischen Abstimmung innerhalb der DFPV, die Frage der Parteienpartnerschaften und -Affinitäten (welche Strömungen gehören zusammen?), die Bildung von Arbeitsgruppen, z.B. zum Thema Energiesicherheit, um nur einige zu nennen. Als Kernkompetenz der DFPV kristallisierte sich eine Kontrollfunktion heraus, nämlich die Überwachung der Umsetzung der beiden oben genannten Verträge. Ansonsten mangelt es nicht an Themen: Umwelt und Energie, die EU-Erweiterung, die Sprachpolitik, die grenzüberschreitende Mobilität, die medizinische Versorgung im Grenzraum, gemeinsame deutsch-französische Kulturinstitute – das sind einige der genannten Beispiele. Insbesondere Frédéric Petit beeindruckte durch sein Engagement für die deutsch-französische Sache – aus zwei Erbfeinden sei ein Paar geworden, das der Welt etwas zu sagen und zu geben habe. Er ist Abgeordneter der im Ausland wohnenden wahlberechtigten Franzosen und vertritt den 7. Wahlbezirk, zu dem neben Deutschland u.a. auch Polen und Österreich gehören.

Zum Abschluss unseres Besuches in der Assemblée Nationale dankte Nadine Magaud den vier Gesprächspartnern und überreichte ihnen das genau passende Präsent: eine deutsch-französische Ko-Produktion in Form des Kochbuches Les recettes de Confino-Chef.

Nach diesem erkenntnisreichen Ausflug in die Politik erwartete uns nun am frühen Abend im Foyer des Pariser Goethe-Instituts der heitere und gesellige Teil des Donnerstags-Programms: die soirée anniversaire unseres Vereins anlässlich seines zehnjährigen Bestehens.

Zunächst hatten wir eine weitere Gelegenheit, uns während des Stehempfangs näher kennenzulernen – bei jedem dieser Treffen gibt es ja neben den „alten“ Gesichtern auch wieder, erfreulicherweise, „neue“. Ursula Egyptien, Leiterin der Pariser DAAD-Außenstelle, sprach unserem Verein ihre Glückwünsche und ihren Dank aus und würdigte ausdrücklich Nadine Magauds Wirken als seine Gründerin und seinen Motor. Ihr Dank galt auch Janine Wenk für die gewissenhafte Vorbereitung des Treffens. Anschließend kündigte sie uns den Auftritt des deutsch-französischen Live Trio an – ein Experiment, da sich die drei Musiker an jenem Abend zum ersten Mal treffen sollten! Nadine Magaud blickte in ihrer Ansprache auf die Geschichte des Vereins zurück und erwähnte die zahlreichen Kontakte, die sich aus seinen Aktivitäten, z.B. den Besichtigungen, ergeben haben. Ihr Dank galt all jenen Mitgliedern, die sich mit ihren Initiativen und Ideen aktiv in das Vereinsleben eingebracht haben. Selbst die Pandemie habe das Vereinsleben nicht zum Erliegen gebracht, im Gegenteil, kreative Kräfte brachen hervor und ließen beispielsweise die Recettes de Confino-Chef entstehen. Was nun noch fehle, sei eine deutsch-französische Hochzeit innerhalb des Vereins…

Für die musikalischen Darbietungen begaben wir uns in die behagliche Aula des Goethe-Instituts mit den bequemen Orchestersesseln. Auf der Bühne standen bzw. saßen Nadine Magaud (Klavier), Monique Baqué (Gesang, Klavier), Carsten Döll (Saxophon), sowie die Mitglieder des Live Trio: Gernot Gad (Saxophon), Antoine Meunier (Tuba), Björn Kükenthal (Akkordeon).  Das eigens für den Abend verteilte detaillierte Programm sah folgende Musikstücke vor:

Nadine Magaud/Monique Baqué: Ode an die Freude (Beethoven)

Monique Baqué: Les Champs Elysées (Joe Dassin)

Carsten Döll/Live Trio: My way (Claude François)

Monique Baqué/Live Trio: Göttingen (Barbara)

Monique Baqué/Carsten Döll/Live Trio: As time goes by (Hupfeld)

Alle: Te Deum „Eurovision“ (Marc-Antoine Charpentier).

Monique Baqué beschenkte uns als Überraschung mit einem besonderen Arrangement: eine zweisprachige Umdichtung von As time goes by, im Sinne einer Würdigung des DAAD. Es war somit kein Wunder, dass der musikalische Teil des Abends uns in eine heitere und fröhliche Stimmung versetzte; vielleicht hätte der eine oder andere Alumnus gerne weiter musiziert, gesungen oder nur den Klängen gelauscht. Aber uns erwartete noch der letzte Teil des Abends, ein Cocktail dînatoire. Bevor wir uns wieder in das Foyer begaben, wies Nadine Magaud noch auf die Wechselfälle des Lebens hin, an denen der DAAD nicht ganz unschuldig ist: Carsten Döll aus dem baden-Württembergischen Obrigheim hat es nach Toulouse verschlagen, Monique Baqué hingegen aus Toulouse ins baden-württembergische Tübingen.

Oben angekommen, dankte Janine Wenk den Musikern, und wir erhoben das Glas, um auf unseren Verein anzustoßen. Anschließend ergriffen Wolfgang Dick, Schatzmeister von DAAD Alumni France, und Aurélien Joly, administrateur des Vereins, das Wort. Wolfgang Dick ist 1989 in Frankreich als Stipendiat des DAAD angekommen und verdankt seine hiesige Karriere dem DAAD. In seinem Rückblick schlug er einen Bogen von 1989 (Fall der Mauer) über 2003 (die leidvolle Hitzewelle) und 2013 (Gründung von DAAD Alumni) France bis heute. Aurélien Joly wiederum ist vor genau 10 Jahren als Stipendiat nach München gegangen und blickte auf seine Zeit in Bayerns Hauptstadt zurück. Er würdigte den Teamgeist im Verein und die zahlreichen Kontaktmöglichkeiten.

Der folgende cocktail dînatoire erwies sich als Buffet, das uns eine große Auswahl kreativer und innovativer, sehr schmackhafter tapas-ähnlicher Leckerbissen anbot. Dieser gesellige und kommunikative Teil des Abends wurde musikalisch vom Live Trio untermalt, bis es dann hieß, Abschied zu nehmen, für manche etwas früh, aber uns erwartete ja noch ein dicht gedrängtes Programm am Freitag. Einige Alumni, die im Hotel Jean Bart nächtigten, hatten die Idee, beflügelt und angeregt von der soirée anniversaire, auf dem Heimweg einen Abstecher über die Champs Elysées zu machen. Leider verloren sie, vielleicht als Folge der vielfältigen Eindrücke des Abends mit den Gedanken ganz woanders, die Orientierung, so dass sie ihr Ziel, die Champs Elysées, nur mit ziemlicher Verspätung erreichten. Als es dann galt, das Hotel aufzusuchen, mussten sie feststellen, dass die Metrolinie 4 zur Unterkunft geschlossen war. Aux Champs Elysées, ja, aber plus Odyssee…

 

Der 24. November: Ein Tag im 5. Arrondissement

Ein historischer Spaziergang auf den Spuren von Pierre und Marie Curie

Unser Treffen mit Peter Reinhardt, Hochschullehrer an der Sorbonne Université für theoretische Chemie und profunder Kenner der Geschichte dieser Disziplin, war in der Rue Erasme, Hausnummer 12, vorgesehen. Diese Hausnummer existiert jedoch nur auf unserem Programm und auf Google Maps, nicht jedoch in der Realität, was Peter Reinhardt zu der humorigen Bemerkung veranlasste, dass ja auch die Wissenschaftlerin Marie Curie etwas gesucht hatte, was man nicht sehen konnte. Während unseres Spazierganges durch das reizvolle Viertel erfuhren wir sehr viel Wissenswertes über das Forscherpaar, über die reinen biografischen Fakten hinaus. Die damaligen Arbeitsbedingungen für Naturwissenschaftler sind mit den heutigen nicht zu vergleichen. Zunächst einmal existierte der Status des Forschers damals noch nicht. Geforscht und gearbeitet wurde mit einfachsten Instrumenten, von denen wir im Laufe des Spaziergangs noch einen Eindruck bekommen sollten. Das Ehepaar Curie verfügte auch lange Zeit über kein Labor, Experimente wurden z.B. im Treppenhaus der jeweiligen Lehrgebäude gemacht. Eine Universität war nur eine Institution der Lehre, nicht der Forschung. Als Marie Curie dann in einer späteren Lebensphase ein Labor erhielt, waren ihre Mitarbeiter ehrenamtlich tätig. Die Entdeckung der radioaktiven Strahlung von Radium und Polonium (Marie Curie taufte dieses Element nach ihrer Heimat Polen) bedeutete nicht, dass Marie Curie sich der Gefährlichkeit des Materials bewusst war. „Elle se baladait avec le radium dans sa poche“ in Paris (Peter Reinhardt); entsprechend verstrahlt und kontaminiert sind heute immer noch manche Örtlichkeiten im Viertel. Dennoch hat Marie Curie ihren Ehemann um viele Jahre überlebt; sie verstarb 1934 auch nicht an den Folgen der radioaktiven Strahlung, sondern an einer Krankheit.

Zunächst führte uns Peter Reinhardt zu dem Gebäude, in dem Pierre und Marie Curie zwischen 1898 und 1902 das Radium entdeckt haben (heute ESPCI). Der weitere Weg führte uns an der ENS vorbei zum Jardin Marie Curie, ein kleiner Park, den sie selber gestaltet hat („son royaume“ nach Peter Reinhardt) und an dem sich die Laborgebäude befinden, die sie 1914 erhalten hat (Institut du Radium, heute Musée Curie). Nicht zum eigentlichen Programm gehörte die Durchquerung der Arènes de Lutèce – aber Peter Reinhardt wollte uns dieses reizvolle versteckte Eckchen mit seiner 2000-jährigen Geschichte, wo die Universitätsangehörigen in der Mittagspause ihr Sandwich essen, nicht vorenthalten. Im Jardin des Plantes machten wir halt vor dem Cabinet d‘histoire: hier befindet sich der unscheinbare Eingang zu unterirdischen Labors, zu Steinbrüchen, zu zahllosen Gängen, ein wahres Labyrinth, das auch dem Studium des unterirdischen Lebens von Pflanzen und Tieren diente („la faune obsuricole“).

Immer noch im Jardin des Plantes passierten wir das Gebäude, in dem Henri Becquerel 1896 laut Gedenktafel die Radioaktivität entdeckte. Außerhalb des Jardin des Plantes zeigte uns Peter Reinhardt das Gebäude, wo Pierre Curie als chargé de cours de physique unterrichtet hat, sowie sein Geburtshaus. Höhepunkt der Promenade war dann aber ein unscheinbares Häuschen im Garten des Institut de Physique du Globe de Paris (IPGP), der Pavillon Curie, in dem sich das lang ersehnte Labor befand und in dem das Ehepaar von 1903 bis 1914 weiter zum Radium forschte, für damalige Verhältnisse ein „labo de luxe“ (Peter Reinhardt). Im abgetrennten Teil des Pavillons   befindet sich nicht mehr das Originallabor, sondern ein nachgestelltes Labor, bestehend aus nachträglich zusammengekauften Gerätschaften; der Zugang ist verboten, wegen der immer noch erhöhten Radioaktivität. Große Fotos im Saal zeigen das echte Labor, ein Foto zeugt von einem Laborunfall. Hier endete die Führung. Als Dankeschön überreichte Nadine Magaud Peter Reinhardt ein Exemplar von Les recettes du Confino- Chef, verbunden mit dem Hinweis, dass Kochen ja auch irgendwie etwas mit Chemie zu tun hat. Es war für uns ein sehr instruktiver, aber auch unterhaltsamer Spaziergang bei schönem Wetter, da Peter Reinhardt seine profunden Kenntnisse verständlich und mit viel Humor und Witz zu vermitteln wusste.

Die Sorbonne Université und die Alliance 4EU+

Peter Reinhardt geleitete uns noch zum nächsten Höhepunkt, wobei das Kompositum „Höhepunkt“ diesmal wörtlich zu nehmen ist. Ein Aufzug katapultierte uns auf die 24. und höchste Etage eines zentralen Universitätsgebäudes, das den älteren Semestern unter uns als Tour Jussieu bekannt ist. Dort erwarteten uns Berni Hasenknopf, Professor für supramolekulare Chemie am Institut Parisien de Chimie Moléculaire der Sorbonne Université (IPCM), sowie Sabine Bottin-Rousseau, Professorin für Physik, ebenfalls Sorbonne Université und Koordinatorin des Programms 4 EU+. Zu allererst galt es, die spektakuläre Aussicht auf Paris zu genießen, zumal das Wetter uns wohlgesonnen war. Immerhin ist der Turm knapp 100 m hoch. Bevor es zum eigentlichen Thema ging, erläuterte Berni Hasenknopf uns die Geschichte des Campus, auch anhand von Fotografien: hier befand sich früher der Pariser Marché aux vins, bis dann ab 1960 an dieser Stelle die modernen Gebäude der Université Pierre-et-Marie Curie (Paris VI und Paris VII) entstanden. Der Tour Jussieu wurde 1970 fertiggestellt, zwischenzeitlich wegen Asbest zurückgebaut, saniert und präsentiert sich nun in neuem Gewand. Wir erfuhren, dass es in Paris als Folge der Ereignisse im Mai 1968 zu einer Aufspaltung in zahlreiche Universitäten kam. Dies ist in den letzten Jahren wieder rückgängig gemacht worden:  die Sorbonne Université ist eine Fusion von 3 Fakultäten, u.a. der ehemaligen Sorbonne (Paris IV). Eine andere Pariser Universitätsfusion ist PSL (Paris Sciences et Lettres). Die drei Fakultäten der heutigen Sorbonne Université sind: lettres, sciences und santé. Zu ihr gehören noch Universitätskliniken und Außenstellen, z.B. in Roscoff (Meeresforschung). Verschiedene Schaubilder präsentierten uns die aktuelle Sorbonne Université in Zahlen: u.a. 52.000 Studenten, 6.400 Wissenschaftler (Lehre und/oder Forschung). Es werden auch Studienfächer angeboten, die traditionell nur von wenigen Studenten gewählt werden, z.B. Holländisch oder Hebräisch. Angesichts der aktuellen Herausforderungen (Klimakrise, Covid,…) versteht sich die Sorbonne Université als Institution, die sich in den Dienst der Gesellschaft stellt, auf eine fächerübergreifende Forschung ausgerichtet ist und eine  europäische Perspektive verfolgt („une université ouverte sur l’Europe et le monde“). Den Studenten wird eine eng mit der Forschung verbundene, multidisziplinäre Ausbildung angeboten.

Sabine Bottin-Rousseau präsentierte uns die Alliance 4EU+, ein Zusammenschluss mehrerer europäischer Universitäten, der im Zusammenhang mit Emmanuel Macrons Discours de la Sorbonne (2017) zu sehen ist und in dem er, angesichts der starken Konkurrenz durch US-amerikanische Universitäten, schlagkräftigere und konkurrenzfähige europäische Hochschulen forderte. Zunächst als ein Zusammenschluss von 4 europäischen Universitäten (Paris, Prag, Heidelberg und Warschau) gebildet, kam es in der Folge sukzessiv zu Erweiterungen um vier andere Universitäten (Mailand, Kopenhagen, Paris-Panthéon-Assas, Genf). Ziele dieser Allianz sind, Forschung und Lehre zu stärken, die Mobilität für Studenten und Personal zu erleichtern, gemeinsame Projekte zu initiieren und dafür Fördergelder zu erlangen, eine innovative Ausbildung anzubieten, z.B. durch Kombination von on-line-Zusammenarbeit mit anschließendem realem Treffen. Cours partagés, die jeweils von einer Universität ausgearbeitet werden, könnten den Partneruniversitäten zur Verfügung gestellt werden. Für Doktoranden ergibt sich die Möglichkeit einer Betreuung durch Doktorväter verschiedener Universitäten (co-tutelle). Nicht zu vernachlässigen sind jedoch rechtliche und praktische Fragen. Ein Doktorvater trägt Verantwortung für den Studenten einer Universität in einem anderen Land. In Deutschland gilt, manchmal die Zusammenarbeit erschwerend, die Länderhoheit. Welche Bedingungen und Voraussetzungen müssen für ein anerkanntes europäisches Diplom erfüllt sein? Welche Rolle soll oder darf das Englische als Lingua franca spielen, zumal keine Universität aus dem Vereinigten Königreich an der Alliance 4EU+ beteiligt ist? Bei der finanziellen Förderung länderübergreifender Projekte stellen sich in jedem Land rechtliche Fragen sowie die Probleme der Koordination. Es fehlt also nicht an Steinen, die auf dem Weg zu einer echten europäischen Universität aus dem Weg geräumt werden müssen.

Da wir schon seit 8 Uhr auf den Beinen waren, freuten wir uns über Mineralwasser und Kaffee, die uns dankenswerterweise gereicht wurden. Zum Mittagessen begaben wir uns dann in die Brasserie universitaire L’Ardoise, wo für uns Plätze reserviert waren. Diese Mensa überzeugte durch ihre große Auswahl, sowohl bei den Hauptspeisen, als auch bei den Vorspeisen und den Desserts.

Die Mineraliensammlung der Sorbonne Université

Der erste Programmpunkt des Nachmittags verhielt sich in gewisser Weise komplementär zum letzten Programmpunkt des Vormittags. Befanden wir uns gerade noch auf dem höchsten Punkt des Campus, so begaben wir uns nun in seinen Untergrund. Zahlreiche Treppenstufen hinabsteigend, erreichten wir die unterirdische Mineraliensammlung – im Prinzip der rechte Ort, denn Mineralien, Steine und Kristalle sind ja im Allgemeinen Fundstücke aus dem Bauch der Erde.  Céline Paletta, Verantwortliche für die Sammlung, und Paola Giura, Vorsitzende des wissenschaftlichen Rates der Sammlung, empfingen uns unten und nahmen uns mit auf eine Entdeckungsreise durch eine phantastische, märchenhafte Glitzerwelt. Die Entstehung der Sammlung geht auf das Jahr 1809 zurück. Erweiterungen erfuhr sie durch Aufkäufe und Schenkungen. Ein Teil der Führung betraf die Geschichte der Sammlung – sie ist eine der ältesten und wichtigsten Frankreichs, nicht wegen der Größe, sondern wegen der Originalität und des Seltenheitswertes der Exponate. Öffentlich zugänglich in Form einer Dauerausstellung sind die Mineralien erst seit 1970. Von den insgesamt 11.500 Exemplaren werden immer nur ca. 1.500 ausgestellt und ab und an ausgewechselt. Der andere Teil der Führung betraf die Mineralien selber. Wir erfuhren, dass die Mineralien in speziell konstruierten Vitrinen mit indirekter Beleuchtung präsentiert werden, da sie licht-, wärme- und feuchtigkeitsempfindlich sind und Farbveränderungen vermieden werden sollen. UV-Strahlen werden möglichst herausgefiltert. Manche Exponate sind dennoch schwierig zu konservieren, da sie gewissermaßen „weiterleben“. Apropos „Leben“: ein Exponat ähnelte einer Baumscheibe mit ihren Jahresringen bzw. einer Zwiebel, was von einem kontinuierlichen Wachstum wie bei einer Pflanze zeugt. Der Wert von Objekten kann sinken, ihre Originalität kann schwinden, wenn weitere Mineralien der gleichen Spezies gefunden werden. Ein seltener Stein kann so quasi „entthront“ werden. Es gibt insgesamt 32 Formengruppen. Oft sind es Zufälle der Natur, die die erstaunlichen geometrischen Formen entstehen lassen. Bis jetzt ist es unmöglich, die Entstehung solch perfekter geometrischer Formen im Labor nachzuahmen. Zitat: „On ne bat pas la nature“. Für Zwecke der Forschung und Lehre sind manche Mineralien zerstoßen und zermahlen worden; dasselbe machten Höhlenbewohner vor langer Zeit, um Farbe für ihre Höhlenmalereien zu produzieren. Gegen Ende der Führung betraten wir einen Nebenraum, in dessen Vitrinen radioaktive Mineralien ausgestellt sind. Die Radioaktivität ist nicht zu stark, um sie nicht auszustellen, aber stark genug, um vor einem längeren Aufenthalt im Raum zu warnen und um Kindern und Schwangeren vom Aufenthalt ganz abzuraten. Zur Information: ein Aufenthalt von einer Stunde entspricht der Dosis einer Röntgenaufnahme der Lunge oder von drei Röntgenaufnahmen des Kiefers. Zitat und Kommentar:  “Die Mineralien sind weniger schön, aber strahlend“.

Nach ca. einer Stunde verließen wir diesen märchenhaften, unwirklichen Ort, beeindruckt  von der bizarren Schönheit der Mineralien, und tauchten wieder auf in der nüchternen Realität des oberirdischen Campus. Unser nächstes Ziel im 5. Arrondissement sollte das Institut Pierre-Gilles de Gennes sein.

Das Institut Pierre-Gilles de Gennes IPGG)

Wieder überquerten wir die berühmte Rue Mouffetard, um unser letztes Ziel zu erreichen, das IPGG, ein Forschungszentrum, das sich der Mikrofluidik und ihren Anwendungen widmet. Dort wurden wir von Stéphanie Descroix, CNRS-Forschungsdirektorin am Institut Curie, empfangen und zunächst in den Hörsaal geleitet, wo eine theoretische Einführung in die Materie stattfinden sollte. Uns wurde schnell klar, dass unser Besuch im IPGG nicht der Mikrofluidik als solcher galt, sondern vielmehr ihren Anwendungen und Nutzen im Bereich der Krebsforschung. Das Institut Curie widmet sich der Krebsforschung und – Therapie, umfasst somit ein Ensemble von Laboren, Forschungseinrichtungen und Kliniken, in denen Krebspatienten aufgenommen werden. Wir erfuhren, in Anlehnung an den morgendlichen Spaziergang mit Peter Reinhardt, dass im alten Gebäude des ursprünglichen Institut Curie immer noch mehr oder weniger starke radioaktive Strahlung gemessen wird. Die ersten Schaubilder betrafen die Geschichte und die Mission des Institut Curie und der Fondation Curie sowie ihre Einbindung in andere Forschungsstrukturen und erinnerten uns an Marie Curies Leitspruch: « Rien dans la vie n’est à craindre, tout doit être compris. C’est maintenant le moment de comprendre davantage afin de craindre moins. » Weitere Dias informierten über die Häufigkeit von Krebserkrankungen in Frankreich und definierten den Krebs als unkontrolliertes Zellwachstum. Das Institut Curie verschreibt sich in Abgrenzung zu den konventionellen Therapien neuen Ansätzen, mit dem Ziel, für jeden Patienten die beste, individuell angepasste Therapie zu finden. Anstatt mit Versuchstieren zu arbeiten, forscht man, unterstützt durch die Mikrofluidik, mit Hilfe von Organen und Tumoren auf Chips („organe sur puce“, „tumeurs sur puce“).  „Developper des avatars de patients pour ameliorer la prise en charge des patients“ ist der Leitgedanke der Forschungstätigkeit, mit anderen Worten: Welches Medikament für wen und gegen welchen Krebs? Da der Mikrofluidik-Chip der Dreh- und Angelpunkt dieses Ansatzes ist, gilt es, seine Fabrikation zu studieren und zu perfektionieren. Hat man von einem echten Tumor einen „Zwilling“ auf einem Chip produziert, fällt die Entscheidung für eine individuell angepasste, sachgerechtere Therapie leichter: „Les tumeurs sur puce comme outil d’aide à la décision clinique“. Auch die Entwicklung neuer Medikamente wird durch die Mikrofluidik-Chips unterstützt.

Im zweiten Teil unseres Besuches besichtigten wir das im selben Gebäude befindliche Labor, das dem Institut Curie vom IPGG zur Verfügung gestellt wird. Hier arbeiten festangestellte Wissenschaftler sowie Studenten und Praktikanten. Im Gegensatz zu anderen Laboren wird hier weniger am Bildschirm, sondern öfters manuell gearbeitet. Stéphanie Descroix zeigt uns einige Exemplare von Mikrofluidik-Chips, z.B. eines Darms oder einer Niere. Die Tumore auf Chips werden natürlich am Computer studiert und analysiert.

Wir passierten eine Art Nagelbrett, bei dem es sich um die Imitation von Muskeln handelte. Ein Mitarbeiter arbeitete am Computer über einen Regenwurm als Modell für Versuche – ein wegen seiner Transparenz geeignetes lebendes Objekt. Wir besuchten noch die Werkstätten – das Material für die Chips und die Chips selber müssen ja auch hergestellt werden, bevor an ihnen und mit ihnen geforscht werden kann. Wir konnten auch von außen in einen Reinraum blicken.

Nach diesem hochinteressanten Ausflug in eine transdisziplinäre Forschungswelt, sehr anspruchsvoll für einen Nicht-Naturwissenschaftler, trennten wir uns für knappe zwei Stunden, um uns gegen 19 Uhr zum gemeinsamen Abendessen im renommierten Restaurant Polidor einzufinden. Hier ein Auszug aus seinem Internet-Auftritt: «  Lieu de prédilection de Verlaine, Rimbaud ou Hemingway, théâtre des Assemblées des Optimates du Collège de Pataphysique, le restaurant Polidor a connu une histoire singulière depuis son ouverture en 1845. Il est considéré aujourd’hui comme l’un des plus vieux « bistrots » de Paris. » Wir waren für die « Schicht » von 19 Uhr bis 21 Uhr angemeldet, viele wären vielleicht gerne länger sitzen geblieben, denn die Unterhaltungen waren angeregt und anregend, die Laune war bestens. Andererseits hatten wir einen langen, ereignisreichen Tag voller neuer Eindrücke hinter uns, so dass eine gewisse Müdigkeit es uns leicht machte, den Heimweg oder den Weg ins Hotel anzutreten.

 

Der 25. November:

Centre George Pompidou und Musée Nationale d’Art Moderne; Abschied im und am Restaurant Le Brise Miche

Der Samstagmorgen sollte uns ein willkommenes Kontrastprogramm zum Freitag bescheren. Wir trafen uns gegen 11 Uhr am Centre Pompidou, um von der Museumsführerin Dominique Misigaro durch die 4. und 5. Etage des Kunst- und Kulturzentrums geführt zu werden, welches die größte Sammlung moderner und zeitgenössischer Kunst in Europa besitzt. Ein thematischer Schwerpunkt der etwa zweistündigen Führung war „Deutschland im Centre Pompidou“. Wie haben sich Malerschulen und Künstlergruppen gegenseitig beeinflusst? Welche Tendenzen und Strömungen lassen sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts verfolgen, welche Konzepte und Ideen vertreten die einzelnen Künstler? Dominique Misigaro führte uns anhand ausgewählter Bilder bzw. Objekte anschaulich in die Materie ein und stellte die zum Verständnis der Werke notwendigen Bezüge her. Die Führung begann mit Malern des Expressionismus und Fauvismus, die sich beim Gebrauch der Farben von den Konventionen befreiten und mit der Vergangenheit brachen. Die Verwendung der Farbe ist ungewöhnlich und wird willkürlich. Sie ist nicht mehr „fonction de la nature“, sondern soll Gefühle auslösen, das Auge leiten. Als Beispiele dienten uns Henri Matisse, Fille au chat noir (1910), die Maler des deutschen Expressionismus: Die Brücke, Der Blaue Reiter, deutsch-russische Künstler wie Alexej von Jawlensky, von dem das Bild Byzantinerin (1913) stammt. Ernst Ludwig Kirchner ist mit Toilette; Frau vor dem Spiegel (1910) vertreten; August Macke mit Die Lautenspielerin (1910). Gabriele Münters Bild Drachenkampf (1913) lässt sich interpretieren als Kampf der Maler gegen die Vergangenheit.

1910 markiert aber bereits einen Wendepunkt, da mit Wassily Kandinsky die Anfänge der Abstraktion eingeläutet wurden. Er gilt als wichtiger und innovativer Theoretiker der abstrakten Kunst. Wir betrachteten von ihm das Bild Mit dem schwarzen Bogen (1912), ferner die Improvisation 3 sowie die Improvisation XIV. Zu den Pionieren der abstrakten Kunst zählt ebenfalls der tschechisch -französische Künstler František Kupka mit Ordonnance sur verticales en jaune (1913), ein Bild, an dem sich trefflich das Farbenspiel analysieren lässt. Francis Picabia ist mit einem überdimensionierten Bild vertreten: Udnie (1913). Hier ist der Betrachter eingeladen, durch seine Interpretation das Bild selber zu produzieren. Von der Russin Sonia Delaunay betrachteten wir das Porträt Jeune Finlandaise (1907) mit seiner sehr persönlichen, willkürlichen Farbgebung, sowie das Bild Rhythme 1938, auf dem bestimmte Farben gegenübergestellt werden, um für die Bedingungen der Farbwahrnehmung zu sensibilisieren. Robert Delaunay ist mit Manège de cochons (1922) vertreten, sowie mit einem früheren Werk, Les Tours de Laon (1912). Letzteres ist noch vom Kubismus beeinflusst, ersteres will den Rausch der Moderne und die Atmosphäre jener wilden 20er Jahre auffangen.

Ein Saal ist dem Berliner Bauhaus gewidmet, dessen Idee es war, Kunst, Handwerk und industrielle Fertigung zu verbinden, womit die Brücke zu einem neuen Design geschlagen wurde. Noch heute werden, z.B. von der Firma Thonet, Möbel im zeitlosen und funktionalen Stil des Bauhauses produziert. Im Centre Pompidou ist das Bauhaus durch ein Möbel-Ensemble von Marcel Breuer vertreten.

Der Russe Kasimir Malévitch vertritt die russische Avantgarde mit seinem Bild Carré noir (1923-1930). Er steht für die Entwicklung einer gegenstandslosen, abstrakten Kunst. Der Maler André Derain stand, wie viele andere, unter dem Schock des Ersten Weltkriegs und gehörte zu der Kunstbewegung Retour à l’ordre, die sich als Reaktion auf die avantgardistische Kunst jener Zeit formierte. In seinen frühen Jahren hatte er jedoch selber den Fauvisten nahegestanden, gehörte zur Avantgarde, nun vollzog er, nicht alleine, einen Richtungswechsel, „un retour en arrière“, natürlich nur bezogen auf sein malerisches Schaffen. Nicht zur Gegenbewegung Retour à l’ordre gehörte Otto Dix, den Dominique Misigaro als Maler „hors classe“ bezeichnete. Seine Bilder zeugen von Übertreibung und Humor, z.B. Erinnerungen an die Spiegelsäle von Brüssel (1920). Wir stießen anschließend auf einen Vertreter des Dadaismus oder DADA, eine von Zürich ausgegangene Bewegung, mit dem Ziel, bestehende Grenzen radikal einzureißen. Marcel Duchamp kaufte Gegenstände und stellte sie aus, im vorliegenden Fall eine Schneeschaufel, pelle à neige, die im Centre Pompidou an der Wand hängt und den Betrachter sinnieren lässt: wo ist hier Kunst? Im Übrigen war Marcel Duchamp nicht nur als Dadaist ein Dissident, sondern auch ein Dissident innerhalb der Strömung des Dadaismus. Was die Etymologie des Wortes „Dada“ betrifft, so erfuhren wir, dass es eine rein zufällige Wortschöpfung ist. Der deutsch-französische Maler und Grafiker Hans Hartung ist mit seinem Werk T1956-14 aus dem Jahre 1956 vertreten, eines von vielen gegenstandslosen Bildern, die eine Handlung, eine Geste wiedergeben. In dem kleinen Pavillon Comtesse de Caen des Institut de France am Seine-Ufer fand übrigens just zur Zeit unseres Treffens bis zum 26. November 2023 eine Ausstellung abstrakter Malerei statt, in der vor allem Hans Hartung mit zahlreichen, für ihn typischen Bildern vertreten war und als Maler „en quête d’une abstraction gestuelle“ beschrieben wurde.  Neben Hartung zählt André Marfaing zu den wichtigsten Vertretern einer ähnlichen abstrakten Malerei. Sein Bild Sans Titre (02/1963) will primär eine Arbeit zu einer Geste sein, unter Verzicht auf bunte Farben. Nicolas de Staëls großformatiges Bild Les toits (1952) zählt ebenfalls zur abstrakten Malerei – jedem Betrachter ist es freigestellt, wie er das Werk interpretiert. Anschließend betrachteten wir Monochrome bleu (1960) von Yves Klein. Die Farbe ist durch ein Patent geschützt, die Besonderheiten des Bildes erschließen sich nur bei sehr geringem Abstand. Wir haben es mehr und mehr mit einer Kunst zu tun, die zum tieferen Verständnis zusätzliche Informationen benötigt. Das gilt ganz besonders auch für zwei Werke von Joseph Beuys auf der 4. Etage, keine Bilder, sondern viel Raum beanspruchende Installationen: Infiltration homogen für Konzertflügel (1966) und Plight (1985). Die Kunst von Joseph Beuys stellt die Museen vor bisher unbekannte Herausforderungen, da die verwendeten Materialien, manchmal sogar Fett, hier im Centre Pompidou vor allem Filz, sich im Laufe der Zeit zersetzen. Da Beuys sich weigerte, den ramponierten Filz des erstgenannten Werkes ersetzen zu lassen, kam es zu einem Kompromiss: die ursprüngliche Filzhaut, mit der der Konzertflügel umgeben war, hängt daneben an der Wand. Die Vorliebe des Künstlers für die Materialien Fett und Filz werden, so Dominique Misigaro, im Allgemeinen mit Beuys Flugzeugabsturz im Zweiten Weltkrieg auf der Krim und seiner Rettung durch die dort ansässigen Tartaren erklärt.

Gegen Ende der Führung erreichten wir das großformatige Werk Monochrome grau (349)  (1973) von Gerhard Richter, das, so unsere Führerin, nichts mehr darstellen will, für den Nihilismus in der Kunst steht und ein Beispiel für die Globalisierung auch in der Kunst sei. Nur sehr wenig Zeit blieb uns übrig, um die mehrdimensionale, mehrere Vitrinen umfassende Installation von Anselm Kiefer zu würdigen: Für Velimir Chlebnikov: Schicksale der Völker (2013-2018). Kiefer, ein „Nachkriegskind“, ein Künstler, der mit Joseph Beuys in engem Austausch stand, aber nicht sein Schüler war, verarbeitete in diesem Werk das Thema „Krieg“. Mit Beuys verbindet Kiefer die Vorliebe für ungewöhnliche und banale Materialien, die in großformatigen Bildern, Installationen und Skulpturen eingesetzt werden. Aktuell ist auch ein Werk Kiefers im Pantheon zu sehen. Mit Anselm Kiefer endete unsere sehr instruktive Führung. Auch Dominique Misigaro erhielt als Zeichen des Dankes ein Exemplar von Les Recettes de Confino-Chef – ein Beweis für die „Kochkunst“ der DAAD-Stipendiaten und Alumni. Und einmal mehr erwies sich die Rezeptsammlung als universell verwendbares Geschenk für alle Fälle.

Das offizielle Programm war nun beendet. Die meisten von uns freuten sich, unser Treffen im Restaurant Le Brise Miche ein wenig verlängern und in geselliger Runde ausklingen lassen zu können, bevor wir uns im oder draußen vor dem Lokal verabschiedeten. Wäre man ganz alleine gewesen, hätte man der symbolträchtigen Örtlichkeit vielleicht mehr Aufmerksamkeit schenken können. Zur Rechten das immer noch moderne Centre Pompidou, zur Linken die alte Kirche St. Merri, im 16. Jahrhundert anstelle einer Kapelle aus dem 7. Jahrhundert errichtet, in der Mitte der verspielte Strawinski-Brunnen, auch Tinguely-Brunnen genannt, gegenüber an der Hausfassade eine monumentale Fassadenmalerei mit der Inschrift „The future will be unknown“ – kurz, ein Ort, an dem es sich trefflich über den Gang der Dinge sinnieren lässt. Was die Zukunft anbelangt, so wissen wir in der Tat noch nicht, wohin die nächste Studienreise des DAAD Alumni France gehen wird, nur, dass es sicherlich wieder ein Treffen geben wird, auf das wir uns freuen können.

Für die freundliche Unterstützung in Form von einschlägigen Hinweisen danke ich an dieser Stelle Janine Wenk und Carsten Döll. Der Hinweis auf die Ausstellung abstrakter Kunst, mit vielen Bildern von Hans Hartung, in dem kleinen Pavillon Comtesse de Caen des Institut de France stammt dankenswerterweise von Françoise Sophie Marie Régnier-Birster.

Ulf Heyden